Jeff
Bernard (Hrsg.)
Semiotica Austriaca
Angewandte Semiotik 9,l0
Wien:
ÖGS 1987
Ortungen.
Raum » Auge » System
A.
Räumliche Verhältnisse
1.
Zwei Körper begrenzen einander, definieren eine Fläche.
2. Drei Körper definieren eine Linie.
3. Erst vier Körper stoßen in einem Punkt aneinander.
Seit
Euklid wird Geometrie eher umgekehrt, vom Punkt ausgehend, konstruiert,
aber ist nicht der Punkt das höchst determinierte, wenigst
freie Element? Cartesius brauchte nur 3 Koordinaten, um einen
Punkt im Raume zu fixieren, aber die Voraussetzung der rechtwinkeligen
Koordinaten ist schon eine mehrfache Definition.
Für
die Körperabhängigkeit der Definition von Flächen
und Linien lassen sich Beispiele anführen:
ad
1: Die Flächen unserer Alltagswelt, vom Millimeter- bis Kilometerbereich
sind keine Oberflächen, sondern Grenzflächen. Die Welt
der Formen ist also eine Welt der Grenzflächen, wobei "Sichtbarkeit",
"Begrenztheit", "Objekthaftigkeit" Medien
voraussetzen, die selbst formbar und transparent sind.
ad
2: Die geographischen Kontinentbegrenzungen sind, als Küstenlinien,
durch drei Raumkörper (Wasser, Land und Luft) definiert (und
eigentlich dauernd in Bewegung!).
Wie
komplex schon zwei Räume sein können bzw. ihre gemeinsame
Grenzfläche zeigen z.B. biologische Systeme: Jeder kann sich
einen Baum vorstellen, den "Luftabguß" eines Baumes
(die Luftstruktur ohne Baum) weniger. Umgekehrt gibt es "Luftbäume",
unser Luftröhren-Bronchien-Lungensystem zum Beispiel, das
aber auch meist von außen als Röntgenbild, beschrieben
wird.
Warum
eigentlich Beschreibung "von außen"?
B.
Visuelle Halbwelten
1.
Natur umgibt uns, allseitig und dauernd.
2. Eigenbewegung ist tierisches und daher auch mit ein menschliches
Prinzip.
3. Zeitempfinden und wechselnder Umraum sind Folgen unserer spontanen
oder stimulierten Bewegung.
4. Bewegung braucht Umweltbezug, Orientierung, Leitung.
5. Distanz- oder Fernsinne sind wichtig, weil orientierte Bewegung
nur nach Vorhersehen (prognostisch) ablaufen kann.
Von
den Fernsinnen sollen in anthropomorpher Weise nur kurz das Ohr,
aber ausgiebig das Auge "zur Sprache kommen". Dabei
soll versucht werden, zwischen den Abbildungsbedingungen und dem
sprachlichen Begriffssystem Beziehungen herzustellen.
Die
Hypothese lautet: Unser Blickfeld erfaßt jeweils nur unseren
halben Umraum oder/und nur eine Seite der Objekte darin; Objektbegriffe,
Beschreibungen, vielleicht auch die 2-wertige Logik tragen diesen
Einschränkungen Rechnung.
Das Ohr: Der akustische Kanal ist gut für Richtungspeilung
(Partnerfindung), kann aber schlecht Distanzen repräsentieren.
Raum (als Summe gestaffelter Hindernisse oder Elemente, zu denen,
zwischen denen oder über die die Bewegung erfolgen soll)
wird akustisch nur schlecht repräsentiert, weil erstens zu
wenig Umweltelemente Schall produzieren und zweitens Reflexion
nur wenig (Fledermäuse) genützt wird.
Das
Auge: Die Optik leistet mehr, der ganze (Wasser- oder) Luftraum
ist lichtdurchflutet, ist voll von einem unvorstellbaren dichten
Lichtstrahlfilz in allen möglichen Richtungen gleichzeitig
(siehe "Wie real ist die Linie").
Zur Orientierung werden nur die "richtigen" = zur Richtung
brauchbaren Strahlen verwendet. Augen sind Lichtfilter, die Richtung
aus dem Raum filtern (Raum als Mischung aller Lichtrichtungen).
Augen strukturieren den Raum auf das Auge hin, Raum wird durch
Augen anisotrop, einseitig.
Unsere
menschlichen Augen sind durch phylogenetische Ursachen frontal
gerichtet, unser Blickfeld ist fast genau halbkugelig, "natürlich"
jeweils vor den Augen. Implizit heißt das, die visuelle
Umwelt steht dem Beobachter vis-a`-vis und erst diese Einschränkung
erlaubt optische Repräsentation (eigentlich wird nicht durch
eine Fläche, die Netzhaut, sondern durch einen Punkt, den
Brennpunkt des Augensystems, Richtung selektiert). Mit anderen
Worten, die Umweltanteile, die als Orientierungsmerkmale ("Objekte")
vom visuellen System erfassbar sind, sind "von vornherein"
in einer Art "Halbwelt" angeordnet.
Diese
zwangsweise "Offenheit nach einer Seite" fällt
mit der bevorzugten Bewegungsrichtung "nach vorne" zusammen.
Wir blicken "dorthin, wohin wir gehen", also in die
Zukunft! (Obwohl das entgegenkommende Licht eigentlich "schon
dort war", also aus der Vergangenheit kommt.)
Die
zweite prinzipielle Einschränkung betrifft die gesehenen
"Objekte", sie werden nur mit ihrer den Augen zugewandten
Oberfläche sichtbar, man könnte wieder sagen, nur zur
Hälfte.
Ist
also die visuelle Welt eine "Viertel-Welt"? Statische
Abbildungsbedingungen und nichttransparente Objekte vorausgesetzt
zeigt sie noch weniger, denn die räumliche, kulissenartige
Staffelung der Objekte bedingt Verdeckungen.
Die
Halbkugelfläche der Retina kann zwar gigantische Objektentfernungen
und Dimensionen abbilden (Sternenhimmel), aber die lnnenansicht
des Augenlids z.B. läßt keinem anderen Objekt eine
Chance.
"Visuelle
Objektbegriffe" haben dann (vor jedem Bedeutungsinhalt) etwa
folgende Eigenschaften:
1. Vom Auge (Subjekt?) räumlich getrennt - Distanz
2. einseitig angeordnet, bildhaft
3. einseitig, zur Hälfte sichtbar
4. In makroskopischer Größenordnung (Millimeter bis
Kilometer)
5. Projektionsabhängig, "nebeneinander", kontrastabhängig
6. statisch(oder Größe, Form und Ort ändern sich
mit wahrnehmbarer Geschwindigkeit: "Verhalten".)
Man
könnte solche Objektbegriffe einfach "übersichtlich"
nennen, damit wird ein Standpunkt außerhalb der Dinge, über
ihnen, ausgedrückt. Das
gilt auch für Konkav-Begriffe, solange die beschriebene Struktur
übersichtlich ist.
Objekte
mit durchbrochener Oberfläche könnte man etwa folgendermaßen
reihen:
a) geschlossenes Objekt mit: Riß, Spalt, Pore, Loch, Türe
b) offenes Objekt: Schachtel ohne Deckel, Vase, Wanne
c) Durchbrochenes "Objekt": Fenster mit Fensterkreuz,
Lenkrad
d) Gerüste, Gitter
e) Siebe, Netze
f) Gespinst, Haar, Faden.
Der
Begriff "Haar-riß" (bei Materialprüfungen)
vermählt in sich die kleinste Öffnung eines Objekts
mit einem minimalen Objekt. Und schließt so den Begriffsreigen.
Was
geschieht nun mit unübersichtlichen Umweltstrukturen, z.B. solchen,
die das Gesichtsfeld überschreiten? Zwei Beispiele seien
genannt:
1. Die allumfassenden Medien Wasser und Luft: Sie werden von Tieren
und meistens auch von Menschen nicht betrachtet, dienen als Voraussetzung,
Bedingung zur Möglichkeit des Erkennens.
2. Innenräume, Höhlungen: Sie sind mit unseren Augen
nicht als solche auf einmal erfaßbar, setzen Kopfbewegung
voraus (siehe Platons Höhlengleichnis). Die Sprache hat keine
umfassend-beschreibenden Begriffe aus "Anschauungs-Defizit",
die Betrachtung versagt.
Die
Beschreibung von ganz alltäglichen Dingen, die wir von innen
erleben, etwa das Gewand, das Vollbad, das Auto, der Arbeitsraum,
zieht sich auf Beschreibungen "von außen" zurück
oder muß "Gefühlsbegriffe" bemühen.
"Stimmung", "Atmosphäre" dienen für
größere Innenräume, "Gefühl" für
körpernähere. Eine genauere Ausarbeitung der Grenzen
zwischen "objektiver" und "empfundener" Beschreibungsweise
steht noch aus.
Außer
den unsichtbaren Medien und den relativ "geschlossenen"
Um-Räumen gibt es noch Umweltstrukturen, die gar nicht oder
nur teil- oder zeitweise strukturell verbunden sind, trotzdem
aber funktionell als Einheit wirken. Das Problem der "zusammengesetzten
Ganzheiten", die oft Systeme genannt werden, ist sehr komplex.
Nehmen wir ein gebräuchliches Beispiel:
C.
Das Schlüssel-Schloß-Prinzip
Ist
es nicht ein Ausnahmezustand, wenn wir ein "Schlüssel-Schloß-System"
in Händen halten, isoliert von dem System, das es versperren
und öffnen kann? Alltäglicherweise tragen wir den kleinsten
Teil des Systems, den Schlüssel, mit uns, wissen und erkennen
daher das passende Loch, aber die Vereinigung der beiden ist noch
nicht das Ziel der Handlung (wie das beim entsprechenden sexuellen
Vorgang der Fall zu sein scheint).
Erst
das Zurückziehen eines weiteren schlüsselartigen Elements,
des Riegels (aus seinem passenden Loch) gibt das nächstgrößere
System, das Türsystem, frei.
Und erst das Aufklappen, das Trennen der Türe von dem ihr
angepaßten Rahmen, eröffnet Zugang zum gewünschten
System, dem Raum dahinter.
Ein paar Fragen semiotischer Natur seien hier angefügt.
1. Das Loch als semiotisches Problem
Wie soll ein Defizit bezeichnet werden? Gibt es ein Zeichen für
nicht Vorhandenes? Kann nicht Vorhandenes nur nach Vorhandenem
definiert werden? Kennt nur der Mensch Negativbegriffe? Gehört
das "Nullzeichen" in diesen Bereich?
2. Welche Zeichenqualität
genügt der Ent-"sprechung" von dreidimensionalen
Strukturen, wie sie bei Form und Gegenform vorliegt? Wird in dieser
Raumlogik nur je gegenseitig definiert ("Form und Gegenform")?
"Komplementarität" scheint für die Mikrophysik
reserviert, "positiv" - "negativ" bringt die
3. Wertigkeiten unserer polaren Begriffsstruktur
ins Spiel. Ist der Mann "besser", weil die Frau eine
Negativstruktur anstelle einer "Positivstruktur" trägt?...
Psychologie,
Biologie und Semiotik müßten gemeinsam eine Analyse
der Begriffsbildungsvorgänge versuchen.
Als
Beispiel sei vielleicht der Versuch vorgestellt, den Systembegriff
selbst unter evolutionären "Gesichts"punkten zu
betrachten.
D.
Gibt es "Ur-Systeme?"
Bleiben
wir bei unserer optisch sich darstellenden Umwelt so ist anzunehmen,
daß evolutionär stabile Umweltstrukturen (Horizont,
Artgenossen, Bäume, fließende Wasser, Seen, Felsen)
schon vor der Sprachentstehung zu Orientierungsmerkmalen wurden.
Ob man sie "natürliche Kategorien" oder "präverbale
Begriffe" nennt, ist sekundär gegenüber der Frage,
ob unser visuelles System mit seiner inhärenten Einseitigkeit
Systeme abbilden kann, um sie einer begrifflichen Fassung zuzuführen.
Wenn
sich nämlich Elemente des Systems außerhalb des Gesichtsfelds
befinden, muß zur Vorstellung des Gesamtsystems eine Zusammensetzung,
ein konstruktiver Akt hinzukommen. Um z.B. die Horizontlinie zu
einem Gesamtpanorama zu schließen, müssen mehrere Anteile
zusammengesetzt werden. (Erst Astronauten hatten die Distanz,
das Objekt Erde übersichtlich zu machen, erst sie haben die
Bio-sphäre als Sphäre vor sich, bis dahin war sie ein
Konstrukt, ein konstruierter Begriff.)
Zwei
evolutionär alte und für die Menschwerdung wichtige
Systeme scheinen einer genaueren Betrachtung wert: Der Baum und
das Sozialsystem.
Wahrscheinlich
haben die Hominiden vor ihrer Zweibeinigkeit eine Millionenjahre
dauernde zumindest teilweise baumbewohnende Daseinsphase durchgemacht,
anatomische Hinweise am Schultergürtel lassen darauf schließen.
Da der sichtbare Teil des "Baumes" an sich ein perfekt
hierarchisches System, allerdings mit der "Spitze" nach
unten, darstellt, ist anzunehmen, daß sich diese Struktur
samt ihren logischen (?) Eigenschaften im Orientierungssystem
niederschlägt. Die Verzweigungen bilden ein dreidimensionales
System, das noch dazu zentriert ist, denn die Schwerkraft zwingt
die verkehrte Baumpyramide zu balanciertem Wachstum.
Nicht nur das optische System internalisiert die Logik der Verzweigungen:
mit dem Eigengewicht, der Griffgröße der Hand und der
Spannweite der Arme setzt sich das gesamte sensomotorische Verhaltenssystem
mit dem Baum auseinander: Je länger die Baumphase unserer
Ahnen gedauert hat, umso selbstverständlicher sollte uns
dieses komplexe, aber geordnete Griff-, Tritt- und Bewegungsinventar
sein. Sogar die Gefühlssphäre (stammnahe Sicherheitszone,
peripherer Risikobereich) könnte vom "Mutterobjekt"
auf die Umgebung übertragen worden sein.
Anders
präsentiert sich das Sozialsystem. Die Einzelelemente oder
Individuen sind auf unsichtbare Weise verknüpft, aber nicht
dauerhaft und auch nicht räumlich logisch. Autonomie, vor
allem die selbständige Beweglichkeit der Einzelelemente erschwert
"natürlich" die Wahrnehmung von Wechselbeziehungen.
Dennoch sind Beobachten und Einfühlen für Primaten zum
Erlernen eigenen Verhaltens überlebensnotwendig. Wenn die
Spezies in Gruppen lebt, muß jedes Gruppenmitglied jedes
andere in seiner Bedeutung und seinem Rang kennen, jedes Verhalten
muß verständlich sein, verstanden werden, ja oft mit
Kooperation beantwortet werden. Vorhersagen, zumindest Vorherwissen,
zu welchem Verhalten der Ansatz von Bewegungen führt, ist
für alle Gruppenmitglieder vorrangig - diese Art von Wissen
("the social function of intelligence") hat wahrscheinlich
maßgeblich zum Erfolg der (Prä)Hominiden beigetragen.
Da
Artgenossen aber sehr gut gestalterkennbare Objekte sind, ist
die Bildung einer Begriffseinheit pro Gruppenmitglied wahrscheinlich.
Ebenso wahrscheinlich werden aber auch alle Kontaktweisen zu anderen
Gruppenmitgliedern mitinternalisiert werden. Die starken und schwachen
Interaktionen (Koalitionen, Subgruppen, Kämpfe etc.) ergeben
ein echt vernetztes System, in dem einander sehr ähnliche
Einzelelemente eine hochkomplexe, aber geordnete lnteraktionsstruktur
bilden. Anzunehmen ist ferner, daß auch das Eigenverhalten
in die lnteraktionsmuster eingeht, eine Vorbedingung für
die Selbsterkenntnis des bewußten Menschen. Eine eventuelle
Hierarchie innerhalb der Gruppe wird mit dem Sozialsystem ebenfalls
mitvermittelt, in diesem Falle eine dynamische mit Rollen- und
sogar Führungswechseln.