Zeichen
und Realität
Klaus Oehler (Hrsg.)
Stauffenburg Verlag Tuebingen 1984
Wie
real ist die Linie?
Da
der optische Abbildungsvorgang kaum weniger komplex ist als seine
Produkte, die gesehene Umwelt, soll versucht werden, die räumlichen
und funktionellen Bedingungen dieser Art Semiose darzustellen. Dabei
wird nicht auf die neuronale Verrechnung der optischen Wahrnehmung
eingegangen, es soll hier nur der Weg des Lichts vom Objekt bis
zur Ebene der Netzhaut betrachtet werden: "Vom Raum zur Fläche"
Teil 1.
Anschließend wird an Hand einiger linearer Zeichenträger
(Kontur, Kante, Grenzlinie, Strich) deren Zustandekommen in der
optischen Semiose vergleichend abgehandelt: "Von der Fläche
zur Linie" Teil 2.
1.
Vom Raum zur Fläche
Beginnen wir mit einer naiven Skizze, wie sie oft der Beschreibung
von Informationsprozessen beigefügt wird:
Abb.1
|
|
KYBERNETIK:
BIOLOGIE:
SEMIOTIK:
|
Sender
Umwelt
Zeichenträger
|
Empfänger
Auge
Interpretant |
Da es sich bei der Darstellung der Situation selbst um eine Abbildung
handelt, müssen wir für die abgebildete, "wirkliche"
Situation ein paar triviale aber notwendige Bedingungen fordern,
aber mit der Einschränkung, dass Beugungs-, Brechungs-, Interferenz-,
Filter-, Spiegelungs- etc. Effekte unberücksichtigt bleiben.
Nun die Forderungen:
A. Körperlichkeit (makroskopische Dreidimensionalität,
Raumverdrängung)
von Sender und Empfänger.
B. Distanz (In makroskopischer Dimension, beim Tastsinn z.
B. erfüllt die
direkte Wechselwirkung diese Bedingung nicht.)
C. Transparenz des "Distanzmediums". Die Körperlichkeit
von Sender
und Empfänger bedingt einen Raum zwischen
den beiden, nicht nur
eine Verbindungslinie. Das Medium darin kann
Vakuum, Gas (Luft) oder Flüssigkeit
(Wasser) sein.
D. Dynamik. Zur Überbrückung der Distanz ist ein
Übertragungs-
mechanismus notwendig. Dieser ist ein gerichteter
Transport und wir
nennen das Vehikel dafür Licht, egal ob
Welle oder Teilchen. Mit dem
Licht wird Energie und Information übertragen.
Wie
sollen wir uns das "Senderobjekt" vorstellen?
Die
makroskopische Körperlichkeit bedingt eine Oberfläche,
damit auch Auseinandersetzung mit Licht, es ergeben sich optische
Oberflächen-eigenschaften. Sei es, dass Licht emittiert oder
reflektiert wird, es verlässt das Objekt geradlinig und gerichtet
(Gerichtetheit heißt in diesem Falle: vom Objekt weg). Das
Licht ist nach Kontakt mit der Objektoberfläche geordnet,
was Gerichtetheit, Intensität (manche Flächenanteile reflektieren
oder strahlen mehr als andere) und Wellenlänge (Farbe) betrifft.
Noch nicht geordnet sind die Richtungen zueinander, da jeder
Teil der Objektoberfläche unzählbare Lichteinheiten in
alle möglichen Richtungen (möglich = nach außen)
abstrahlt:
Abb.2
Daraus
ergibt sich, dass das Objekt nur von außen (aus Distanz!)
sichtbar ist und dass jeder beliebige Raumpunkt außerhalb
des Objekts nur einen Teil der Objektoberfläche sehen könnte,
den jeweiligen "Aspekt" des Objekts:
Abb.3
Wie
kann man sich das "Empfängerobjekt" vorstellen?
Die
makroskopische Körperlichkeit bedingt eine Oberfläche,
auf die von allen Seiten Licht auftrifft (Abb. 4 a). Nicht nur das,
jeder Einzel-punkt der Oberfläche wird von allen Seiten
mit Lichteinheiten beschossen (Abb. 4 b). Umgekehrt wären für
das Empfängerobjekt alle Raumrichtungen "sichtbar",
für einen einzelnen Punkt auf seiner Oberfläche aber,
grob gesagt nur eine Hälfte. Die andere Hälfte schluckt
das Objekt, der Punkt "sieht vom Objekt weg".
Das
"Gesichtsfeld" eines Punktes in einer Fläche ist
also eine Art Halbkugel, er ist gleichsam nur nach einer Seite offen:
Abb.4a Abb.4b
Ein
Punkt kann aber nicht gleichzeitig alle eintreffenden Lichteinheiten
speichern oder gar verarbeiten, er ist nur Auftreffpunkt.
Wie
wird also aus dem Objekt ein Empfänger, ein Auge?
Wenn
der Punkt an der Oberfläche alle Raumrichtungen, die ihm offen
stehen, und jede für sich verarbeiten könnte, ergäbe
die Summe dieser Strahlen, flächig nebeneinander geordnet,
ein Muster, das Gesichtsfeld wäre abgebildet:
Abb.5
Dies
wäre das Prinzip des Komplexauges etwa von Insekten. Die Strahlen
werden dabei schon vor dem eigentlichen Schnittpunkt absorbiert,
er dient nur als Fluchtpunkt für die Augenkonstruktion: Die
durch Röhren selektierten einzelnen Raumrichtungen werden durch
"Apposition" d. h. mosaikartig zum Gesichtsfeld geordnet.
Bei besonderen, seitlich abstehenden Augentypen kann so schon das
Einzelauge ein fast kugelförmiges Gesichtsfeld synchron abbilden.
Es gibt aber noch andere Möglichkeiten, die Raumrichtungen
geordnet abzubilden: Anstatt den Raumrichtungen entgegenzugehen
kann man auch warten bis sich die Strahlen nach dem Schnittpunkt
wieder aufteilen (allerdings seitenverkehrt). Der Punkt wird frei
gelassen oder die Oberfläche an dieser kleinen Stelle transparent
gemacht, so dass das Licht in einen Hohlraum fallen kann.
Man
beachte: Das Strahlenbündel, das auf diese Lochblende zu konvergiert,
ist die Summe aller Strahlen, die aus beliebiger Entfernung, aber
in direkter Linie auf dieses Loch zu abgesendet wurden - ohne Ziel
abgesendet, aber zufällig auf dieses Loch gerichtet
ankommend.
Der
Brennpunkt trifft also die Auswahl unter den umherschwirrenden Strahlen
und lässt sie wieder in benachbarte, jetzt divergente
Raumrichtungen aufteilen:
Abb.6
Endstation
ist eine Unzahl von flächig angeordneten Rezeptoren, die sie
als Abbildmuster absorbiert - der Einzelrezeptor kann nur "Licht"
oder "Nichtlicht" melden:
Abb.7
Ein Ausschnitt aus der menschlichen Netzhaut ca. 10000fach
Dieser
Bautyp des Auges (mit Blendenoptik) kann ohne Lichtbrechung (Linsen!)
nicht mehr als ca. 180° Gesichtsfeld abbilden. Manche Tiere
haben durch zwei genau seitwärts gerichtete Augen ein horizontumfassendes
Gesichtsfeld.
Anders
ist es beim Menschen, seine scheinwerferartig frontal gestellten
Augen ergeben den großen binokulären Sehbereich, gut
für "suchende" Organismen, die sich in komplexer
Umwelt (fast nur) vorwärts bewegen.
Wie
sieht nun die Abbildungssituation abgebildet aus?
Der
Standpunkt des Auges selektiert die Oberflächenanteile des
sichtbaren Objekts, die ihr Licht geradlinig auf dieses zusenden,
die zugewandte Seite, die Vorderseite, den Aspekt des Objekts: Der
Aspekt des Objekts wird Teil des Gesichtsfeldes des Auges. Die Nachbarschaft
des Objekts wird Hintergrund genannt, die Hinterseite und der Hinterraum
des Objekts sind im Blickschatten:
Abb.8
Alltags-physikalische Erläuterungen:
Lichteinheiten nehmen keinen Platz ein, sie können sich im
Flug fast beliebig dicht "ineinanderschachteln", ihre
Richtung beibehalten ohne sich zu stören. Ihre Bewegungsrichtungen
bleiben unabhängig voneinander, Lichteinheiten sind in ihrer
Bewegungsweise "ferndeterminiert" (im Unterschied zu "nahdeterminierten"
Bewegungsbahnen einander stoßender Teilchen, wie sie Gasmoleküle
in der Luft darstellen).
Dass wirklich der jeweilige Standpunkt des Brennpunktes im Raum
die Strahlen nur selektiert, wird klar, wenn man sich den Empfänger
bewegt vorstellt. Das Auge nimmt dann nicht das Abbild mit, es macht
es neu in jedem "Augenblick" in jedem Raumpunkt.
Stellt
man sich nun die unendlichen Möglichkeiten für Raumpunkte
außerhalb eines Objekts vor, ahnt man welch unermesslicher
Informationsüberschuss im lichtdurchfluteten Raum vorliegt.
Es ist ein unvorstellbar dichter "Kausalfilz" - durch
jeden Punkt jagt eben zu jedem Zeitpunkt aus allen Raumrichtungen
Licht, jedes ein Objektteilchen anzeigend, sei es nun Zentimeter
oder Lichtjahre in dieser Raumrichtung entfernt.
Die
Tatsache, dass in genau derselben Raumrichtung zu genau diesem Zeitpunkt
nicht ein ferneres oder näheres Objekt Licht aussenden kann,
begründet die Vergänglichkeit, Einzigartigkeit und Richtigkeit
der jeweils aktuellen und direkten optischen Abbildung.
Das Gesichtsfeld hat keine Lücken. Alle Strukturen in ihm sind
benachbart oder über zwischenliegende, oft Hintergrund genannte
Strukturen verbunden. Kontraste können zwischen quantitativ
(hell oder weniger hell) oder qualitativ unterschiedlichen Strukturen
(lichtaussendend oder lichtschluckend) entstehen.
Zwischen kontrastreichen Gesichtsfeldanteilen können nun lineare
Begrenzungen auftreten, und zwar auf verschiedene Weise:
2. Von der Fläche zur Linie
Bei
der Beschreibung der Abbildungssituationen, die zu den verschiedenen
Erscheinungsformen der Linien führen, müssen wir von den
Körpern ausgehen, obwohl diese nur als Aspekte für das
Auge erscheinen. "Fläche" soll also gleichbedeutend
sein mit "Oberfläche eines Objekts".
Begründung: Oberflächen sind immer Grenzflächen zwischen
Objekt und Nachbarobjekt, man könnte solche Flächen etwa
als "Kontaktgebiet zweier Objekte" definieren, die Unsichtbarkeit
des transparenten Luftkörpers half aber, "Oberfläche"
im Sprachgebrauch durchzusetzen.
2.1
Die virtuelle Kante, die Kontur:
Die
Flächigkeit der Netzhaut entzieht der mindestens dreidimensional
erlebten Umwelt eine Dimension und macht die körperlichen Objekte
zu flächig gesehenen Aspekten: Die in sich geschlossene, unbegrenzte
Oberfläche einer Kugel z. B. wird als kreisförmige Fläche
abgebildet, ihr Aspekt ist also begrenzt ("Umriss"). An
diesem Dimensionsverlust ändert auch die binokuläre Betrachtungsweise
nichts Grundsätzliches: Körper werden zu (Ober-) Flächen
reduziert, ihre Oberflächen erhalten begrenzende Konturen.
Unsere optisch-visuelle Umwelt kann so als Summe der Aspekte von
Objekten in unserem Gesichtsfeld betrachtet werden. Als Kinder lernen
wir (vgl. Jean Piaget) dieses flächige Überdeckungsmuster
in räumliche Ordnung zu interpretieren, aber eigentlich gilt
für die optische Abbildung, dass "das eine Ding dort beginnt,
wo das andere aufhört".
Die
Kontur, die uns linear erscheint, durch Helligkeits- oder Farbkontrast
hervorgerufen, ist also weder an dem Objekt noch an seinem Nachbarobjekt
oder im Hintergrund, sie ist auch nicht zwischen Objekten, die Kontur
ist ein Sehartefakt.
Bewegen sich Auge oder Objekt relativ zueinander, ändern sich
Kontur und Aspekt, bei gekrümmten Objektoberflächen "wandert"
die Kontur der Oberfläche entlang. Der Umriss ist an ihr nicht
materiell fixiert, sondern ein Ergebnis der Projektion, eine virtuelle
Kante.
2.2
Die (echte) Kante:
Gibt
es nicht trotzdem materielle Kanten, unabhängig von Projektionseffekten?
Unser Tastsinn kann doch an einer Möbelkante eine gerade Linie
"begreifen", diese Art Kante existiert also auch außerhalb
der Optik, ohne Augen. Man müsste sie im Unterschied zur Kontur
"echte Kante" nennen, eine besondere Art Kontur: Sie behält
ihre Lage am Objekt auch beim Blick von verschiedenen Richtungen,
also auch bei Bewegung des Auges oder des Objekts. Da (echte) Kanten
durch Flächenanteile hervorgerufen werden, die einander "schneiden",
sich gegenseitig begrenzen, gibt es je nach Schnittwinkel verschiedene
Arten von Kanten:
Abb.9a
Abb.9b
|
|
Abb.9c |
Die Winkelangaben geben den Raumwinkel an,
aus dem die Kante gesehen werden kann = Blickfeld
|
Aber
auch bei diesen echten Kanten hat die lineare Struktur keine eigene
Wirklichkeit, sie biete sich dem Tastsinn oder dem Auge als Form,
als Begrenzung des Objekts dar, sie ist aber materiell nicht von
ihren Flächennachbarn am Objekt verschieden. Im jeweiligen
Blickfeld bleibt die echte Kante in Bezug auf das Objekt an derselben
Stelle, d. h. sie wandert nicht die Oberfläche entlang wie
bei einer Kugel. Ihr Hintergrund allerdings wechselt bei jeder Relativbewegung
zwischen Auge und Objekt, da er normalerweise nicht am Objekt fixiert
ist, sondern durch den transparenten Blickraum getrennt wird (Distanz!).
Für das Auge tritt der jeweils an Raumrichtung nächste
Objektaspekt in Nachbarschaft zum Objekt, egal wie weit er von ihm
selbst entfernt ist.
Doch nun zu den für uns Europäer des 20. Jh. wichtigsten
linearen Strukturen, jenen die in den optisch-visuellen Medien vorliegen.
Bild und Schrift stellen zweifellos die häufigsten Linienelemente
in unserer Wahrnehmung, "Strich" wird sogar als Synonym
der Linie verwendet.
2.3.
Die Grenzlinie:
Nehmen
wir eine Litfasssäule mit Plakaten: Wir sehen die Kontur des
ganzen Objekts wandern, wenn wir uns relativ dazu bewegen, aber
innerhalb des jeweiligen Aspekts (der "Vorderseite") bleiben
die Kontrastränder der Farbflächen konstant, sie sind
ähnlich fixiert wie Kanten. Zum Unterschied zu echten Kanten
ist ihr Blickfeld aber immer 180°:
Abb.10
Die
kantenbildenden Flächen schließen also keinen Schnittwinkel
ein, sie sind aber materiell verschieden. Sie projizieren sich nicht
nur nebeneinander, sie begrenzen einander wirklich, "sind einander
wechselseitig Kontur".
Sie können einander auch wechselseitig Hintergrund sein, durch
diese fixierte Relation kann die Grenzlinie im gesamten Blickfeld
"an der selben Stelle" bleiben.
Da der Farbkörper einen Teil der Oberfläche seines Trägerkörpers
verdeckt (keine Distanz!), schafft er eine dritte Fläche. Er
schiebt sich gleichsam zwischen den Trägerkörper und dessen
Umgebung und markiert mit seiner Kontur-Kante eine lineare Struktur
in der sich drei Körper treffen bzw. drei Grenzflächen
schneiden:
Abb.11
Es ist dies eine Art Dreikörperproblem, und wir haben es (bei
offenen Augen) fast immer vor uns.
Damit das Auge beide Körper sehen kann, müssen deren Aspekte
neben- einander projiziert werden. Eine Dreieckskonstellation ist
dafür unabdingbar.
Ein transparentes, distanzfüllendes Medium und Licht darin
ebenso, die Abbildungssituation wird damit zur "mindestens
vier Körper + Licht" - Situation:
Abb.12
Erst
mit diesem Komplexitätsgrad der räumlichen Verhältnisse
lässt sich die Linienproblematik darstellen, denn jeder Hintergrund
muss andere Eigenschaften haben als das Distanzmedium. Ein Beispiel:
Das Himmelsblau "hinter" dem fliegenden Vogel lässt
das Licht anders erscheinen als der (gleichartige) Luftraum davor.
Da Auge, transparentes Medium und Licht für jede optische Abbildung
so notwendig wie im Prinzip gleichartig sind, erhielten sie quasi
"apriorischen" Charakter, d. h. sie werden oft vernachlässigt.
Nun lässt sich zeigen, dass zwei Objekte mit ihren benachbarten
Oberflächenabschnitten beliebige Winkel einschließen
können, der gemeinsame Aspekt aber höchstens 180°
betragen kann:
2.4.
Der Strich:
Zurück
zur Litfasssäule. Die benachbarten Farbflecken auf Papier dort
sind auch dreidimensionale Körper, aber so niedrig, dass sie
nicht alleine bestehen könnten. Durch den Trägerkörper
verlieren sie noch dazu die eine Hälfte ihrer Sichtbarkeit,
die sichtbare "Welt des Gedruckten und Gemalten" entspricht
also einem halbkugelförmigen Blickfeld, das im Gesichtsfeld
des Auges gelegen sein muss. Wenn der Farbfleck noch dazu extrem
lang und extrem schmal wird, nennen wir ihn Strich. Dieser wichtigste
lineare Zeichenträger ist ausschließlich von Menschen
geschaffen, er kann nicht von selbst entstehen. Im Querschnitt und
nach einiger Vergrößerung können wir drei Typen
unterscheiden (vereinfachte Darstellung):
Tinte
in Papier
Abb.14a
|
Kreide
auf Tafel
Abb.14b
|
Ritzer in Wachstafel
Abb.14c
|
Die
ungewöhnlichen Abmessungen eines Striches hindern uns, ihn
als Körper mit eigener Raumverdrängung zu betrachten:
An Höhe braucht er nur Lichtwellenlänge erreichen,
die Farbenringe eines Ölflecks auf Wasser z. B. sind nur einzelne
Moleküle hoch, gerade soviel, um mit dem Licht wechselzuwirken.
Bei der Schrift "auf" einer Wachstafel muss die Rillenkante
Schatten werfen können, der Schattenraum entspricht hier dem
"Strichkörper".
Die Breite braucht auch nur über unserer Netzhautauflösungsgrenze
zu liegen, sie ist meist konstant, somit redundant und kein eigener
Informationsträger.
Die ganze Information eines Striches steckt in seinen Kanten, die
parallel und so nahe nebeneinander verlaufen, dass man den Körper
zwischen ihnen sozusagen übersieht und die zwei Kanten einfach
"ein Strich" nennt. Normalerweise bildet die Umrisslinie
einen Körper ab, beim Strich ist die Körperlichkeit so
reduziert, dass "sich die Kanten gegenseitig abbilden".
Wie
nun der Mensch dazu kam, Umrisslinien, die bei jeder Bewegung (objektseits
oder seinerseits) wechseln, mit seiner Willkürbewegung nachzuziehen,
dabei einen Stein oder Pinsel entlang einer Höhlenwand führte,
ist für uns, die wir in einer Welt der Striche leben, nicht
mehr nachvollziehbar....
Jedenfalls ist die Umsetzung einer Kontur in einen Strich eine Reifikation,
die Schöpfung eines geformten Körpers. Es ist nicht Abbildung
oder Nachbildung; einen Strich zu zeichnen ist künstliche Produktion
nach der Struktur einer Wahrnehmung, die Materialisation eines Kontrastes,
eigentlich nur einer Relation. Ich würde meinen, dass mit dieser
Entwicklung eine neue Zeichenklasse entstanden ist. Der Mensch wurde
Produzent materieller und bis zu unserer Zeit überdauernder
Zeichen.
|