© 1993 bei Altern & Kultur, A-1040 Wien, Lambrechtgasse 2/1

Erschienen (in leicht gekürzter Form)
"Betrachtungen über die Mühen des Alters" in
CLINICUM Magazin für moderne Krankenhausführung
Nr. 7-8/1992 S 16-18

"Gerontophobie"
Ein Essay über unsere natürliche Einstellung zu alten Menschen

Drei Fragen

Als erstes kann man das Phänomen Alter im privaten, familialen Bereich betrachten. Unsere eigenen (Ur-Groß)Eltern - wir versorgen sie nicht alle selbst, aber wir müßten es doch eigentlich. Warum haben wir relativ wenig schlechtes Gewissen, wenn wir es nicht tun? Vielleicht gibt es außer ökonomisch-zeitlichen (Zwang zum Geldverdienen) und räumlichen (Kleinwohnungen) noch andere, tiefere Gründe.

Der zweite alltägliche Bereich der Begegnung mit dem Alter eröffnet sich, wenn uns alte Menschen als Stockbenützer, langsame Straßenüberquerer oder als Mitfahrer im Bus begegnen. Jedes Kind erkennt jemanden als "alt" und damit auch zum Beispiel als "arm, weil er nicht gut gehen kann". Ist es nur erziehungsabhängig, ob wir gebrechlichen Alten helfen, ihnen einen Sitz anbieten - oder sie in ihrer Hilflosigkeit allein lassen?

Der dritte Bereich gilt nur für Leute, die in Sozialberufen tätig sind, ihnen sind nicht-verwandte, nicht -bekannte alte Menschen anvertraut. Sie treten beruflich, primär anonym, aber oft mit medizinischer Verfügungsmacht ihnen gegenüber, um sie zu pflegen, zu heilen oder zum Tod zu begleiten. Ist es das "reine Alter", das Scheu, Ablehnung und sogar Aggression erzeugt, oder ist es nicht vielmehr die Abwehr des Pathologischen, des Abweichenden?

Wie alt ist das Alter?

Sucht man unsere Stammesgeschichte, beginnend mit Fischen und Reptilien, die ihr ganzes Leben nur weiter wachsen (1), nach dem Phänomen Alter ab, wird man erst bei Säugetieren mit dem Phänomen der "Silbermähnen" bei alten Leittieren fündig (2). Wird ein solches von einem jüngeren Männchen besiegt, zieht es sich an den Rand der Gruppe zurück (Marginalisation) und wird damit leichter Opfer von Räubern. Es wird nicht ausgestoßen, sondern weniger beachtet.

Im so genannten TMÜ (Tier-Mensch-Übergangsfeld) könnte sich für die ältesten Sippenmitglieder durch lange Lebenserfahrung eine neue wichtige Rolle ergeben haben: die Tradierung von erlerntem und lehrbarem Kulturwissen. Diese Wertschätzung ist im Prinzip bis heute geblieben, allerdings haben
- frühe Vermittlung gesellschaftlich relevanten Wissens und
- Herausbildung von Kleinfamilien
die Alten ihrer Macht- und Vermittlerposition enthoben. Parallel dazu hat sich in den letzten 100 Jahren in vielen Ländern Europas die mittlere Lebenserwartung verdoppelt: Viel mehr Menschen erreichen viel höheres Alter. Ihr Erscheinungsbild wird
- häufiger, daher gewohnt, "gewöhnlich", aber auch
- anonym, da nicht mehr familiär vertraut.

Wie typisch ist das Alter?

Die Wahrnehmung von Mitmenschen, vor allem die Beobachtung ihrer Mimik, Gestik und Sprache, ist uns so geläufig, daß wir die Manipulationskraft, die davon ausgeht, erst durch beschreibende Heraushebung, Zerlegung und Interpretation erkennen können. Allgemeine Merkmale, die "auf den ersten Blick" oder beim Anblick von Ferne an einen Menschentyp denken lassen, bevor persönliche Kennzeichen zur Wirkung kommen, stellen in Summe ein Stereotyp, ein "Schema" dar (4). Ausprägungsgrad, Anzahl und Kombination der Merkmale variieren: Behinderter, Schwarzer, Greis. Hier der (unvollständige) Entwurf für ein "Alters-Schema":

A: Gestalt, Aussehen, Morphologie
Gesicht: (wichtigste Landschaft des Menschenlebens, erstes Objekt, dauernde Interaktionsbühne) Fettreduktion, faltig, zerfurcht, zerteilt, wie zerknittert
Schädel: ausgehöhlt, knochig bis skelettiert, Augen tief in den Höhlen, klein Disproportioniertheit: Nase und Ohren übergroß (diese Knorpel wachsen das ganze Leben)
Zähne:    lückenhaft bis fehlend, Prothesen
Haut:      schlaff, faltig, trocken, schuppig, fleckig, Alterswarzen
Haare:    vermehrt (Nase, Brauen, Ohren) oder vermindert (Haupthaar),
             grau, weißlich, verfärbt, borstig
Hände:    knochig, knotige Gelenke, Venenrelief, betonte Nägel Arme,
Beine:     schlaffe Muskeln, runzlige Haut, Falten, Gelenke relativ verdickt
Haltung:  (das "Wesen" des Menschen) fest und aufrecht, gerade,              Rumpfverkürzung: Discusverschmälerung, gekrümmt, gebeugt,              Skoliose
             relative Arm- und Beinverlängerung (weil nicht verkürzt)

B: Verhalten (Lebensvollzug, Willens- und Gefühlsäußerung)
Allgemein:verlangsamt, steif oder überschießend (ungenau, zitternd)
Augen:    starrer Blick oder flinke Äuglein, alles beobachtend
Extremitäten: Exkursionsweiten gering, Hüfte, Knie, Hals steif
Gang:      unelastisch, schlurfend, geradlinig, Stock, Häuserwand
Greifbewegungen: Tremor der Arme, aber fester Griff, Klammern
Essen:     gebeugtes Sitzen, Tremor der Arme, Besteckgriff locker,
              Prothese locker, Kauen schwierig
              Urinieren, Stuhlen schwierig

C: Sprache (Instrument für Intellekt und sozialen Austausch, Persönlichkeitsausdruck)
Rhythmus: Verlangsamung, Pausen, Wiederholungen Einengung der Themen:
-   Krankheit
-   Essen (Appetit, Menge, Darm, Stuhl) zu heiß, zu kalt, zu wenig Zeit
-   Partner: Familie und Freunde, Nachbarn, Ärzte, Pflegerinnen
-   Materielles: Wohnung, Geld, Schmuck
Orientierungsmängel:
-   räumlich, zeitlich, sozial
-   Vergesslichkeit
-   Seh- und Hörbehinderung
Emotionalität, Lautstärke:
     Neigung zu:   fordern, herrisch, zynisch, aggressiv
     Oder            abgekoppelt (summend, brummend)
     oder             bittend, jammernd, leiernd

Unweigerlich drängt sich ein Eindruck auf: Sind nicht viele der genannten Merkmale Krankheitssymptome? Und wenn das Vollbild in Wirklichkeit nie vollständig und auf einmal auftritt
- ab wann ist man dann alt und krank?

Private Toleranz

Wenn Entwicklungsvorgänge irreversibler Art sich langsam und stufenlos aufbauen (oder abbauen), dabei unsere Wahrnehmungsschwelle für Änderungen nicht erreichen, wird ihre Erkenntnis, ihre Benennung und damit ihr eigentliches "Auftreten" erst relativ spät erfolgen. Vielleicht kann deshalb unser definitorisches, durch Abgrenzung ordnendes Begriffssystem solche Phänomene, einen schleichenden Beginn oder fließende Übergänge (wie die gerade hier so typischen "Grautöne") nur unzureichend beschreiben (5).

Daß die wirklichen Vorgänge oft so weitgehend abgekoppelt von unserem Wissen über sie verlaufen (übrigens eine Bestätigung für die Weltsicht des Konstruktivismus (6+7), kann hier erklären helfen, welchen enormen individuellen Unterschieden die subjektive Alterseinschätzung unterliegt.

Ein dreistufiges Beispiel für eine derartige "Begriffskarriere":
1 "Erste Anzeichen", erst rückwirkend so benennbar, werden als einzeln auftretende oder "lästige" Störungen empfunden und ad hoc erklärt. Ihre Summierung durch ausgedehntes Auftreten und Hinzutreten neuer Veränderungen zwingt zu einer gemeinsamen Erklärung, etwa als
2 Alters - "Erscheinungen", da klingt neben dem Erschrecken über eine "plötzliche" Erscheinung der immer noch unverbindliche Charakter eines An-Zeichens durch. Die oben erwähnte Art der Gewöhnung läßt den alternden Menschen nicht nur sein ganzes Leben "immer noch derselbe" sein, sie stellt, ebenso unbemerkt und unbewusst, die vertraute soziale Umgebung sogar in ihrem Verhalten um: Angleichung im Gehrhythmus, Anheben der Lautstärke beim Sprechen, geduldiges Erklären... Leistungsdruck im Beruf, Normendruck in der Öffentlichkeit oder erst die Begegnung mit dem diagnostisch krankmachenden Blick der Medizin transformieren die privat tolerierten Veränderungen als
3 "abweichende Befunde", in "Symptome".

Wie krank ist das Alter?

"Pathophobie", die Angst vor Krankheit, wird als die bei weitem wichtigste Angst vor dem Alter angegeben (8). Sie wirkt bei allen Menschen, wenn sie betroffen sind, sei es am eigenen Körper oder am Nächsten. Auch gesunde Greise(innen) zeigen Merkmale, die wie Symptome aussehen, z.B. die bekannten allmählichen Hautveränderungen, Flecken, Schuppen, sich über Jahrzehnte summierend. Sie können wie ein sich ultralangsam ausbreitender Ausschlag interpretiert werden und in später Ausprägung für einen Außenstehenden auf den ersten Blick krankhaft erscheinen.

Welche tiefenpsychologischen Faktoren hinter unserer Scheu vor Menschen stecken, die Krankheitssymptome zeigen, kann nur vermutet werden. Wer für biologische Argumente offen ist, kann "Angst vor Ansteckung" als Teil einer stammesgeschichtlich gelernten Strategie auffassen: Individuen, die auffälliges Aussehen oder Verhalten von Artgenossen mit Distanzverhalten beantworteten, hatten statistisch mehr gesunde Nachkommen.
Eine "Verbesserung der Art" durch Sterilisation oder Tötung von Symptomträgern gab es dabei wegen der Kontaktscheu nie - das blieb dem so logisch denkenden und konsequent handelnden Menschen vorbehalten...

Was bleibt nun von der Gerontophobie übrig, wenn man die Pathophobie "abzieht''?

Wie wirken Baby und Greis(in)?

Die "kugelige" befruchtete Eizelle, das "prall-rosige" Baby und das vielgestaltige, feinziselierte Alter - unsere Ontogenie, die Entwicklung im Leben jedes Einzelnen geht auch im Äußeren vom Einfachen zum Komplizierten. Die "Ausformung" unserer Gestalt ist ein kontinuierliches Hervortreten der tiefer liegenden härteren Merkmale durch die dünner werdende Haut. Defizite (Zähne) und Neubildungen (Hauterscheinungen), Vergrößerungen ("Großmutter, wieso hast Du so große Ohren, eine so große Nase") und Verkürzungen (Männer werden um 10 cm, Frauen um 15 cm kleiner) ergeben Verzerrungen des gewohnten Erscheinungsbildes.

Da die Eizelle normalerweise unsichtbar bleibt, vergleichen wir Baby und Greis(in), mit dem zusätzlichen Vorteil, daß beide Stadien "natürlich hilfsbedürftig" sind. Wie wirken sie bei Begegnungen im Alltag? Die Tatsache, daß kein Baby ohne Begleitung ist (sonst steht es in der Zeitung), weist auf die trivial-biologische Notwendigkeit von Tragen, Füttern, Putzen hin.

Konrad Lorenz reduzierte das Baby auf ein "Kindchenschema" (große Augen unter hoher Stirn, kugelige Kopf und Körperform, gedrungene Extremitäten mit ruckartigen Bewegungen, hohe, unartikulierte Stimme) und behauptete, daß dieser Anblick Pflegebereitschaft in uns auslöse: Warmes Gefühl und Lächeln beim Betrachten, Annähern, Berührungstendenz, Anheben der Stimmlage (9). Immerhin wurde nachgewiesen, daß alle Frauen beim Anblick eines Babys deutlich weitere Pupillen bekamen, ein Sympathiezeichen (11), bei Männern aber nur, wenn sie irgendwann engeren Kontakt mit (eigenen) Babys hatten.

Angeborene Hilfestellung auf das Kindchenschema? Im Ablauf der Stammesgeschichte hatten sicherlich Individuen, die gute Brutpflege betrieben, statistisch mehr lebende Nachkommen.

Dagegen fehlen uns bezüglich der Wirkung des hilfsbedürftigen alten Menschen analoge Untersuchungen. Kann auch dieser mit einem angeborenen Beistandsprogramm rechnen?

Die biologische Betrachtung spricht in diesem Falle dagegen:
- Keine bekannte Tierart sorgt für die Elterngeneration(en)
- AAM's, angeborene Auslösermechanismen brauchen Jahrmillionen zu ihrer Ausbildung.

Die Neutralitätshypothese

Das erst im 20. Jahrhundert regelmäßige Auftreten einer größeren Anzahl von sehr alten Individuen ist für unser stammesgeschichtliches Sozialverhalten ein rezentes, das heißt ein evolutionär neues Phänomen. Daß sich ein Motivationssystem zur Zuwendung, sei es Aggression oder Pflegetrieb, in dieser kurzen Zeit über natürliche Auslese genetisch verankert haben könnte, ist höchst unwahrscheinlich.

Der immer vorhandene Zwang, die eigenen Nachkommen zu schützen, zu ernähren und auf Selbständigkeit vorzubereiten, mag eine Kanalisierung von Ressourcen in Richtung Elterngeneration schlicht als kontra(re)produktiv nie erlaubt haben. Analog wäre ein aktives Ausstoßen von Individuen, ihre Bekämpfung oder Tötung auch bei geringer Gegenwehr, ein sinnloses Risiko und unnötiger Energieaufwand.

Biologisch wäre nicht einmal Neugierde für das Altersbild zu erwarten, denn ein möglichst langes Leben als Individuum entspräche einem Überleben um des Überlebens willen - und ist letztlich doch nicht lebenserhaltend. Vielleicht ist es u.a. auch dieses Desinteresse, das sich empirisch nachweisen läßt: 80% der bis 40jährigen machen sich laut Angabe keine Gedanken über das Alter, sogar zwischen 50 und 60 Jahren nur jede zweite (11).

Wenn nun das "reine Alter" in uns keine Hinwendung oder Abwehr hervorruft, sondern eine Phase des Lebens ist, für die sich keine Liebe, aber auch kein Hass in uns vorbereitet, dann stellt es eine Art leere Bühne der Evolution dar, und das hieße:
- Wir sind primär frei in unserer Einstellung zum Alter, unbelastet, aber auch unbeholfen. Beobachtung, Erziehung, prägende Erlebnisse, später auch die Fähigkeit zur Selbstbeobachtung, füllen unser Konzept erst allmählich.
- Wir behandeln verwandte und bekannte alte Menschen je nach unserer Erfahrung mit ihnen; dabei können sich fast beliebige, oft für Außenstehende nicht nachvollziehbare Gefühls- und Handlungsszenarien entwickeln.
- Zu- und Abneigung fremden alten Menschen gegenüber sind biographisch erworben bzw. von der jeweiligen Situation abhängig und als solche einer Analyse zugänglich.


Literatur
1 Beverton, R., Longevity in fish: some ecological and evolutionary Considerations; In: Woodhead A-D, Thompson K-H (eds), Evolution of Longevity in Animals; Plenum Press, New York 1987
2 Eibl-Eibesfeld, 1., Grundriß der vergleichenden Verhaltensforschung; Piper Verlag, München 1980
3 Humphrey, N., Nature's Psychologists; In: Humphrey, N., Consciousness Regained; Oxford Universitv Press, Oxford, New York 1984
4 Ebel, T., Der alte Mensch und sein Bild in der Gesellschaft; dipa Verlag, Frankfurt am Main 1981
5 Riedl, R., Begriff und Welt; Paul Parey Verlag, Berlin und Hamburg 1987
6 Maturana, H.R., Varela, F.S., Der Baum der Erkenntnis; Scherz Verlag, Bern. München, Wien 1987
7 Schmidt, S..J., Der Diskurs des radikalen Konstruktivismus; Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1987
8 Rosenmayr, L., Die Kräfte des Alters; Edition Atelier, Wiener Journal Zeitschriftenverlag, 1990
9 Lorenz, K., Psychologie und Stammesgeschichte; In: Heberer, G.(Hrsg). Die Evolution der Organismen; Gustav Fischer, Jena 1943
10 Hess, E.H., Polt, J.M., Pupil size as Related to Interest Value of Visual Stimuli; Science Vol. 132, 1960
11 Majce, G., Rosenmayer, L., Das Altersbild in der österreichischen Gesellschaft; Publikation in Vorbereitung; zit. n. Rosenmayr, L., a.a.O.,Wien 1990

 
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