Das Ganze und seine Teile
The Whole and it´s Parts

Internationales und interdisziplinäres Symposium
an der Ruhr-Universität Bochum
17.-19. Dezember 1987
Walter A. Koch (Hrsg.)
Studienverlag Dr. Norbert Brockmeyer Bochum 1989

Eins, Zwei, Drei

Inhalt

1. Einleitung und Zusammenfassung
2. Raum teilen
3. Zusammenhänge
4. Selbsterkenntnis als Suche nach dem Ganzen
5. Kosmos und Prozess


1. Einleitung und Zusammenfassung

Als erstes möchte ich Sie einladen, die Auseinandersetzung eines unbegrenzten ungeteilten Raumes mit einem zweiten, dritten und vierten mitzuvollziehen, um das Entstehen von Begrenzung auf vielleicht neue Art zu erleben.
Danach folgen ein paar Beispiele, wie man die davon abgeleiteten Begriffe und Modelle empirisch fruchtbar machen könnte.
Den Abschluss bildet eine skizzenhafte kognitive Rekonstruktion des ganzen Menschen, beginnend mit einzelnen Körperteilen.
Probleme der Anthropologie, Entwicklungspsychologie und Philosophie werden spekulativ in dieses Panorama der Menschwerdung eingebunden.

2. Raum teilen

Denken wir das Eine als Einziges, können wir uns Raum ohne Begrenzung vorstellen, ohne Differenzierung, Farbe, Struktur, ein leeres Universum, etwas ohne irgendetwas, besser: ein Nichts.
Denken wir ein Zweites dazu, entsteht Beziehung, im Raum entsteht Nachbarschaft, sei sie ein Nebeneinander oder ein Ineinander, zwei heißt Grenze.
Als Grenze zwischen zwei Räumen ist sie nur flächig zu denken, im Detail wie eine Ebene, als Ganzes vielleicht gekrümmt. Stellen wir uns diese eine "Grenze zwischen zwei" vor, ein interface, das immer "inter two" ist. Es fällt uns schwer, eine Grenze zwischen zwei leeren Räumen, zwischen zwei Teilräumen vorzustellen, aber eine Wand oder eine Folie wäre ja schon ein Drittes, ein eigener Raum.
Wir müssen uns "zwei" als verschieden denken, um die Grenze als Umschlag von Einem ins Andere zu fassen, zumindest das Eine muss etwas sein, dann kann das Andere Nichts sein, wir hätten dann einen Unterschied und damit eine Grenze. Wenn das Eine ein homogenes Etwas, das Andere Nichts ist, bleibt die Grenze als Diskontinuität, als Summe aller Umkehrpunkte von gedachten Vektoren innerhalb einer Qualität. Also: "zwei" heißt Unterschied, Grenze, Ebene, oder allgemein gesagt: Flächen, die selber keine Räume sind, finden sich immer "zwischen zwei Räumen".
Führen wir ein Drittes ein. Solange es innerhalb eines der beiden verbleibt, haben wir den "inter two" -Zustand, wie eben beschrieben. Tritt es in Beziehung zu beiden, kann es sie trennen. Dann gibt es zwei Grenzflächen, die sich vielleicht nie treffen, eine Art Parallelenproblem. Trennt das Dritte die beiden nicht, sondern die drei stossen aneinander, dann gibt es drei Grenzen und einen Ort, der alle drei begrenzt. Dieser Ort, der drei Räume begrenzt, ist nur als Linie zu denken, er ist "inter three". Dazu müssten alle drei Räume verschiedene Qualitäten haben.
Bezüglich der relativen Größenausdehnung der Kompartimente: Bei zwei Elementen kann eines das andere völlig umgeben, wenn bei drei Elementen immer noch eines die beiden anderen völlig umgibt, wird die "inter three"-Linie zum Kreis. Sind sie etwa gleichwertig, wird die "inter three"-Linie eine Art Achse, um die herum drei Elemente (der minimalste Kreis!) angeordnet sind.

Sollte Ihre Vorstellungskraft zu erlahmen beginnen:
Lassen Sie in Gedanken Seifenblasen in Kontakt treten. Zwei "kleben" sich flächig aneinander, eine dritte "rutscht" solange auf einer der beiden, bis sie zwischen den beiden "hängen bleibt" und mit ihnen eine Linie in der Tiefe bildet. Sind alle drei annähernd gleich groß, liegt die Linie zwischen den zwei sich bildenden "Mercedessternen"

Mit vier Elementen wird die Beziehungssituation zwar sehr komplex, weil im Falle des Kontaktes von jedem mit jedem nun 4 Linien und 6 Grenzflächen entstehen, aber es kann auch ein Ort entstehen, der erst zwischen vier (Räumen) sich findet, ein "inter four", ein Punkt.

Erst vier Oualitäten, die einander begrenzen, schließen einen Punkt ein.
Vier Raumteile, tetraederartig zueinander angeordnet, erfüllen auch Bedingungen, die wir als irreduzibel "räumlich" ansehen, denn drei Elemente könnten sich "höchstens" in einer Ebene anordnen und erst ein Viertes kann sich darauf erheben.

3. Zusammenhänge

3.1
Wie viele Teilansichten eines Objekts, sei es ein Apfel oder unser Planet Erde, braucht es, um seine ganze Oberflache zu erfassen? Da die Kugel noch die einfachste Struktur darstellt, wollen wir sie abzubilden versuchen.

Zwei gegenüberliegende Polaufnahmen lassen den Äquator unabgebildet.
Zwei weitere Bilder können den Äquator fast ganz, bis auf die Bereiche, wo er "umbiegt", erfassen. Ein Äquator allein ist also nur durch mindestens drei Bilder in all seinen Teilstrecken dokumentiert!

Sind insgesamt also fünf "Blickpunkte" für die ganze Kugel notwendig?
Oder, das gleiche Problem auf "'mechanisch": Wie viele Nadelspitzen bzw. Druckpunkte können eine glatte Kugel fixieren?

Man mag das Problem (und das Objekt) drehen und wenden, wie man will, es sind mindestens vier Bilder oder Druckpunkte notwendig, und diese in der Anordnung von vier Normalen auf die (Oberflächen-) Dreiecke eines Tetraeders, um das Ganze zu sehen oder in den Griff zu bekommen.

3.2
Biochemie ist Kohlenstoffchemie, und Kohlenstoff hat vier Valenzen. Vier Vektoren, die von einem Zentrum ausgehen und einander möglichst wenig stören, nehmen Tetraederachsenlagen ein. Biomoleküle, seien sie nun Ketten, Ringe, Netze oder komplexere Raumstrukturen, sind meist Kompositionen aus Kohlenstoff-Punkten.

Fremd ist uns diese schräge Dreieckwelt, wir alle stehen ja aus Schwerkraftgründen gerade auf ebenem Boden. Gibt es den rechten Winkel nicht auch auf der molekularen Ebene?

Als Antwort zeigt uns die Evolutionsforschung die molekulare Ebene schlechthin, die Biomembran. Sie trennte als erste Grenze das Ein-Zell-Innere von der Umwelt - und beherbergt auch einige Paradoxien. Ihre Teile sind unzählige parallele, dicht aneinandergedrängte, gleichlange Kohlenstoffketten, aber nicht (wie bei Euklid´s Ebene) benachbart "liegend", sondern "stehend": Der horizontale Membrankörper wird aus lauter Vertikalen gebildet! Der rechte Winkel ist der Struktur implizit. Enorme Elastizität zeichnet dieses Bauprinzip der aneinandergleitenden Elemente aus, es wirkt für das Leben als Barriere, Filter, Rezeptor, Verstärker, Wandler.

In der Biogeometrie geht also der Weg vom "Punkt" zur" Fläche" nur über den 'Körper", der selber aus "Linien" besteht!

Nehmen wir nun eine andere flächige Struktur unter die Lupe, wo wir den rechten Winkel zu Recht erwarten, ‚aber vielleicht überrascht sind, den Tetraeder als Fixationsprinzip zwischen den Teilen zu finden.

Bei den Textilien, egal ob Wollknäuel, Filz oder Leinenbindung, sind Überkreuzungen der fädigen Teile das wichtigste Bauprinzip. Im Fall von Strickwaren besteht übrigens das Ganze aus einem Teil.

Im Falle der Leinenbindung erzeugen Zug und Druck Reibung zwischen den "Fadenkreuzen", die das Gewebe stabilisieren. Stellt man sich einen Kontaktpunkt zwischen je zwei einander überkreuzenden Fäden vor, kommen die Fadenelemente (Modell: Perlenkette) rechtwinkelig so neben- und übereinander zu liegen, dass ihre Zwischenräume wie zwei Sättel ineinandergreifen. Je vier Elemente werden so zusammengehalten: dieses Kreuz ist letztlich, systemisch d.h. funktionell gesehen, ein Tetraeder.

Haken und Öse, Ketten, Knopf und Loch sowie der Keil können auf analoge Weise in Kontaktpunkte zerlegt werden. Als Minimalstruktur für einen "Punkt der Ruhe" müssen mindestens vier Elemente derart zusammentreten, dass zwei und zwei überkreuz oder eins auf drei kommt.

4. Selbsterkenntnis als Suche nach dem Ganzen

Wenn wir von der begründeten Annahme ausgehen, dass die Aufrichtung von vier auf zwei Beine der entscheidende Vorgang auf dem Weg vom Affen zum Menschen war, dann waren die Hände die ersten selbsterkannten Körperteile.

Das Auftauchen der Hände in der visuellen Umwelt, dieser faszinierenden Objekte, deren Zusammenhang mit dem beobachtenden Auge selbst nicht sichtbar ist, muß eine ganz neue Erlebnisqualität hervorgebracht haben. Wie lange hat das Hominidengehirn gebraucht festzustellen, daß diese Objekte zu ihm gehören, weil es ihre Bewegung "versteht"? Spiegelbildlich doppelt angelegt, sind die Arme schlangenartig und doch steif rnechanisch beweglich, ihre je fünf Anhängsel können beliebige Formen umfassen, halten, stoßen, werfen, verformen...

Diese Eigenwahrnehmung der Eigenbewegung könnte der Ursprung der sogenannten Subjekt-Objekt-Spaltung sein, denn nur, wenn das Objekt Teil des Beobachters ist, kann man von Spaltung reden.

Das m.E. Entscheidende an dieser Hypothese ist der dynamische Aspekt. Die Zugehörigkeit des Teils zum Ganzen wird nicht durch Analyse, Zerlegung erkannt, sondern aus der übereinstimmenden Bewegungsweise. Könnte das Gehirn nicht seine Erregungsmuster für die Handbewegungen im fast gleichzeitig über die Augen zurückgemeldeten Beobachtungsmuster wiedererkennen, wäre Repräsentation des Einen im Anderen, wäre Identifizierung und Vergleich nicht möglich.

Wenn Handbewegungen dann Spuren in der Umwelt zurücklassen, können auch diese, allerdings als statische "Eigen"-Produkte identifiziert werden. K.POPPER´s "Welt 3" kann beginnen......

Der Verlust der Greiffüße und des Fells brachte einen anderen, mindestens gleich wichtigen "abgespaltenen Körperteil" vor die Augen: Das Baby. Es wurde auf Händen getragen und der Blickkontakt machte für alle Beteiligten das Gesicht zur wichtigsten Landschaft der Welt: Als Einheit vom Hintergrund abgehoben, deutlich in Teile gegliedert, flächig und räumlich zugleich, unendlich variabel beweglich und doch unverwechselbar.

Ausdruck macht Eindruck, Einfühlen und Verstehen spielten sich in diesem Vis-a-vis ab. Als "natürliche Psychologen" können wir schon als Kleinkinder unsere soziale Umgebung ausreichend richtig interpretieren.

Vertrautes, aber nichteigenes Gesicht (der Mutter) und die eigenen Hände sind so vielleicht die ersten Bausteine, und es ist anzunehmen, daß die Augen nicht ruhen werden, bis sie das Bild vom Selbst, das Mosaik des eigenen Körpers ganz zusammengesetzt haben.

Das Gehörte, dem man folgt, kommt aus dem Mund der Eltern, das ist eine wichtige Entdeckung. Daß aber die allwissende Kontrolle, ob man folgt, in ihren Augen liegt, ist wieder eine eigene Entdeckung - es ist Voraussetzung für das folgende, das entscheidende Ereignis. Dieses Ereignis ist total wichtig - und so katastrophal - dass wir es meistens schnell wieder vergessen: man schaut dann in ein Gesicht, das man vielleicht schon öfters gesehen hat, aber langweilig fand, weil es stumm und ohne eigene Bewegung blieb. Irgendwann aber starrt dieses Gesicht so eigen zurück, sei es unter der Oberfläche eines Teiches herauf oder aus dem Rahmen eines Spiegels, es blickt in den eigenen Blick, es weicht nicht aus, allmählich oder schlagartig wird klar, was da schaut ist niemand anderer, ist niemand, bin ich!

Dieses da bin ich, oder ist es ich? Erschrecken - wenn es jetzt weggeht und mich alleine ließe? Dann hätte ich mich verloren - wo ich mich doch gerade gefunden habe. Aber ich bewege mich hier - und es muß folgen - es ist nichts eigenes, es ist mein Abbild, aber ich bin das Ganze, hier herüben, ich bin ich....

5. Kosmos und Prozess

Das Erleben des Selbst als Ganzheit, als Einheit des Ortes, der Zeit und der Handlung läßt den Menschen überall nach Ganzheit suchen und finden, einen Kosmos aus unzähligen Objekten aller Art.

Er benennt die Dinge, zerlegt sie in Teile benennt und analysiert auch diese, als überwiegend "männliche Auseinandersetzung" mit ihnen. Oder er sammelt, füttert, vergrößert und vermehrt sie, als überwiegend "weibliche Herangehensweise".

Aus dieser Argumentationskette läßt sich zwanglos Folgendes vermuten: Das Ganze und seine Teile, wie auch immer sie schon für Tiere repräsentiert sein mögen, erhalten durch unsere Selbsterkenntnis eine neue Qualität: Abgestufte Werte je nach Ausmaß des Selbstbezugs. Die Skala dabei könnte Ähnlichkeit mit uns selbst sein und entspräche dann etwa dem Begriffsrahmen des "Anthropomorphismus" (Artgenosse, Säuger, Vierbeiner, Wirbeltier, Lebewesen, Objekt ganz allgemein).

Eine andere Kategorie des Selbstbezugs wäre kausal-dynamischer Natur, alles was "begriffen" werden kann, hat Bedeutung für uns (Nahrung, Werkzeuge, Waffen, schöne Dinge).

Zum Abschluß noch einmal die "dynamisierte" Fassung des "Erkenne Dich selbst": Bewegungen in der Umwelt werden nach dem Modell der Eigenbewegung verstanden, obwohl die Eigenbewegung nur in der Umwelt gefunden werden kann.

 
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